29. Oktober 2009

Zeitiges

Ja, wir Menschen können sie erleben...die Zeit.

- Wir haben gelernt sie zu messen und versuchen nun, die Antworten zu finden auf die Fragen die sie uns stellt:
Was war, was ist, was wird?

- Eingeteilt haben wir sie schon lange. In Stunden, Tage, Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und mittlerweile gar in Jahrtausende.

- Wir können die Zeit auf der Uhr ablesen denn wir sehen wie sich die Zeiger bewegen, das Pendel schlägt...oder aber auch, so wie gerade, ein Blatt vom Baum sich löst...!

- Eben noch war ich eingespannt in den Teil der Welt der seinen Beitrag leistet um uns die Energie für unseren Alltag zu liefern und jetzt finde ich mich langsam wieder in einer Welt die alt genug ist und Zeit genug hat um zu sehen wie ein Blatt von einem Baum fällt.

- Und diese Welt ist die Welt mit tieferen Wurzeln...

- Das Blätterfallen ist vor unserer Zeitrechnung geschehen, das wird auch nach unserer Zeitrechnung geschehen...tröstlich zu wissen, dass die Zeit uns überdauert denn...


- die Zeit an sich... ist zeitlos.

***

22. Oktober 2009

Die dritte Erzählung


... und stand unter einem klaren Sternenhimmel neben seiner frisch gepflanzten jungen Linde. Er stand und schaute, glitt ins Gras, legte den Kopf in den Nacken, fühlte den Stamm am Hinterkopf und wartete. Worauf? Er wußte es nicht. Er schaute in den Himmel und irgendwann wartete er nicht mehr. Er schaute zum Himmel und irgendwann spürte er Taufeuchte auf den Lippen. Er dachte an das Wasser des Lebens.

- Er schaute nur mehr und in der Morgendämmerung sah er ihn wieder um die Wegbiegung kommen, den Mensch in der blauen Jacke und der blauen Hose. Nicht mehr eckig und fahrig waren seine Bewegungen, sondern ruhig und zielstrebig, Sie setzten sich auf die Bank, langsam wurde es heller auf der Lichtung, ein neuer Tag. Der Gast bat um ein Glas Quellwasser, trank bedächtig, Schluck für Schluck und begann zu erzählen:

- „Immer wieder hat es mich an diesen guten Ort gezogen. Oft ist mir jemand auf dem Weg hier herauf begegnet. Sie haben mir anvertraut, daß sie sich nicht auf die Lichtung verirrt hatten. Der Weg endet hier, doch es war keine Sackgasse, sondern ein stiller Hafen mitten im Wald. Sie haben gefunden, was sie nicht suchten und würden gern wiederkommen, hier eine Zeitlang Obdach finden.

- Der Nimmersatt und der Freßsack sind mir begegnet und erzählten mir von ihrem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe, von der Traurigkeit, daß Kuchen nicht satt macht, von der Sehnsucht wieder leicht zu werden und frei atmen zu können.

- Ein andermal kam mir die Konsumgierige mit dem gehetzten Blick entgegen, ständig zupften die Finger am Designerkleid herum und schließlich begann sie zu weinen, weil all die Dinge, die sie kauft, die Leere ringsum und vor allem das Loch innen nicht stopfen können. Wie glücklich sein müsse, wer eine so weite Wiese wie hinter dem roten kleinen Haus aushalten könne.

- Den Mehr-scheinen-als-sein hab ich getroffen, die Reifen an seinem Luxusschlitten waren alle platt. Er hockte daneben auf dem Wegmäuerchen und gab schließlich zu, wie gerne er selbst ein Rad wechseln können möchte, etwas mit den Händen schaffen, nicht immer das Rad schlagen müssen vor Leuten die einen vergessen oder einen einen aufgeblasenen Kerl schimpfen und neidisch herziehen, sobald man zur Tür hinaus ist.

- Dann einmal sah ich einen Mann, der stand unter einer Birke, hatte die Ärmel hochgerollt, befühlte seine Muskeln und als ich daherkam wurde er rot vor Scham. ‚Was nützt meine Kraftprotzerei, wenn ich schwach werde sobald es um die wirklich wesentlichen Dinge geht‘, hörte ich ihn murmeln, ‚und wenn ich mich vor etwas wie dem Holzspalten drücke, weil ich Angst habe, daneben zu hauen und schneller zu ermüden als der andere.

- Beim nächsten Mal kam mir eine Frau entgegen. Jedes Knacken im Dickicht ließ sie verschreckt herumfahren, sie ertrug die Stille nicht, redete ununterbrochen von ihrem Universitätsinstitut, von Kongressen zum Umweltschutz, von biologischen Experimenten, von lukrativen Strategien, die der Mensch nach Prinzipien der Natur optimieren sollte, daß man zum Beispiel die Selbstreinigungskraft der Lotosblüte für die Produktion beschichteter, schmutzabweisender Jalousien nutzten könnte. Als ich sie fragte, ob ihr hellrote Lotosblüten lieber sind oder dunkelrote, gestand sie mir, sie habe sie noch nie in freier Natur blühen sehen, denn sie fühle sich verloren in der Wildnis und habe solche Angst. Nur in ihrem Labor fühle sie sich sicher. ... nur wie lange, Stellen würden abgebaut.

- Ja, und dann der Herr in dem sündhaft teuren Anzug, den er sich durch einen Grasfleck verdorben hatte. Er lächelte verlegen und sagte, wieviel er darum geben würde noch einmal unbeschwert wie als Bub auf einen Baum klettern zu können, aber abgesehen von den lädierten Bandscheiben, er habe ja keine freie Minute und die Börse sei in Zeiten der Krise ein noch brutaleres Haifischbecken als sonst.“

- „Mh“ brummte der Hausherr, als der Mensch in der blauen Jacke schwieg, „ich war nur froh, diese unangenehmen Zeitgenossen rasch von hinten statt von vorn zu sehen. Und du meinst, sie haben hier etwas gesucht?“ „Vielleicht nicht gesucht, aber gefunden und das Verlangen nach dem einfachen Leben von hier mitgenommen“ entgegnete der Gast zögernd. „So hat es mir zumindest Frau Weisheit erklärt, von der ich dich herzlich grüßen soll und die dir ihren Segen schickt für – wie hat sie es gleich ausgedrückt? – ja, Segen, daß dein irdisches Paradies gedeiht, an dem du hier pflanzst und schaffst.“ „Oh, du hast Frau Weisheit getroffen? Sag ihr, sie ist jederzeit herzlich willkommen auf Svenserum, auch wenn ich gerade zur See bin. Ihr ist ja kein Schlüsselversteck verborgen. Noch schöner wäre es freilich, wenn wir uns wieder treffen könnten. Vielleicht im November schon? Wenn die Nebel ziehen wie die Gedanken. Auf der Bank mit dem Blick zur Espe mit der abgestorbenen Krone ist es dann schon zu kalt, aber am Feuer läßt es sich ja fast noch besser schweigen. Und du? Heute ganz ohne Gepäck, aber mit so viel Ruhe? Und das schlafende Kind?"

- „Du sorgst dich darum? Das Kind ist das Heimweh nach dem Paradies des Unbegreiflichen, ihr Menschen nennt es das Märchen. Ich gab es wieder einmal eine Zeit lang in der Obhut von Leben und Tod, nachdem ich mich selbst bei ihnen ausgeruht habe. Märchen schläft die Müdigkeit und Enttäuschungen der langen Wege durch die Welt weg, trinkt sich wieder am Wasser des Lebens satt und Leben und Tod lehren es Altes neu zu singen, erzählen und tanzen, wie sie mich, die Sehnsucht, immer neu sprechen und zuhören lehren. Willst du mitkommen, wenn Märchen und ich wieder in die Welt ziehen? Als erstes werden wir Frau Weisheit besuchen. Ein Musikant fehlt uns noch, dann sind aller guten Dinge drei. Und du denkst ja wie wir; die Gaben von Frau Weisheit kann man nicht kaufen und nicht verkaufen, wenn sie auch nicht umsonst zu haben ist, sondern oft ein ganzes Leben kosten. Schlägst du ein, kommst du mit – gastfreier Freund?“

- Die Sehnsucht hielt dem Hausherrn die Hand hin, legte ihm ihre blaue Jacke um die Schultern und...


...hier endet die Erzählung. Oder auch nicht, denn die Brücke zwischen den Welten ist geschlagen.
Ob sie trägt?
Das bleibt für jeden selbst herausfinden.

21. Oktober 2009

Die zweite Erzählung


...im Schein der letzten Sonnenstrahlen, die durch die Schneise vom Tal her auf die Lichtung fielen, sah der Mann einen bunten Ball über seiner Linde bersten und daraus einen Garten hochschweben. Unter dem durchsonnten Torbogen standen zwei Gestalten, die ihm winkten heraufzusteigen. Stufe um Stufe formte sich unter seinem tastenden Fuß eine durchsichtige Treppe, versank hinter ihm wieder. Eine ungekannte stille Freude machte ihn so leicht, daß er zuletzt schwebte, nicht mehr stieg, zog ihn doch etwas in und vor ihm zugleich unwiderstehlich nach oben.

- Die beiden Gestalten streckten ihm die Arme entgegen, zogen ihn durch das Tor und es schloß sich hinter ihm. Sie nahmen ihn in die Mitte und wanderten mit ihm durch Wiesen, Felder, auf verschlungenen Wegen durch lichte Gehölze und Hecken, dann wieder zwischen Beeten hindurch, die überquollen von Fülle. Fülle an Farben, Früchten, Düften. Nie gehörter Wohllaut drang in seine Ohren. Und die Luft! Es war, als atme er die Perlen von Champagner und poche mit jedem Atemzug sein Herz noch leichter und noch freudvoller. „Ich will ewig so weiterwandern hier“, dachte er. Die beiden geleiteten ihn aber in immer engeren Spiralen schließlich in die Mitte des Gartens zu einer Bank unter einem großen Apfelbaum. Der schäumte von rosigweißen Blüten, war durchsummt von Bienen, Hummeln und Wespen, durchzwitschert von Vögeln mit niegesehen buntem Gefieder, bog zugleich die Äste schwer von gelben, goldbraunen und roten Äpfeln bis zum Boden und dazwischen knospte es schon neu. Zu Füßen des Baumes quoll das Wasser des Lebens in ein Bergkristallbecken, frisch sprühten Tropfen auf des Mannes Gesicht und die Füße versanken in Moos und Gras. Vor unbändiger Lebenslust meinte er schier zu zerspringen. Er schloß die Augen, um sich zu fassen. Als er sie wieder öffnete, sah er in zwei Augenpaare – groß und erwartungsvoll. Zwei Gesichter ganz nahe vor seinem. Der Blick das Mannes wanderte scheu und zugleich voll Verlangen zu erkennen darüberhin, glitt weiter über die beiden Gestalten. Doch bald legte er die Hände schützend vor die Augen. Solche Majestät – wie sollte er das ertragen?

- Da hörte er zwei Stimmen, beide tief und voll, die einer Frau und die eines Mannes. „Schau uns an, schau, damit du erlebst und davon Zeugnis gibst.“ Der Mann schüttelte den Kopf: „Ich kann nicht begreifen.“
„Oh doch“ erhielt er zur Antwort „vertrau! Kannst du nicht schauen, so fühle.“
Eine weiche, schmale Hand ergriff seine Linke, eine knochige, große Hand seine Rechte. So geführt glitten seine Hände gleichzeitig langsam über die beiden Gestalten.
Rechts fühlte der Mann langsam den Körper entlang streifend warme Menschenhaut, Federn, rissige Rinde, Glätte von Halmen und Fangzähnen, Stacheln, Krallenschärfe, Schleim, Schuppen, Fell, Borsten, glatte Hauerspitzen, Hornpanzer, Wasserkühle, Gischt, Sand, Dornen, Pilzsamt, federnde Moospolster, Wellengekräusel, Ölschlieren, Tropfen, Eisnadeln, Glut ... Da im Nacken eine Flaumfeder, dort an der Schulter ein Stückchen Rehfell, in der Armbeuge Schlangenhaut, an der Hüfte glatte Buchenrinde .. Kaum hatte die Handfläche etwas ertastet, schon entglitt es, fühlte sie neues. Millimeter um Millimeter wandelte sich die Haut dieses Körpers unter dem sanft geführten Handteller.

- Links tasteten die Fingerspitzen des Mannes, unerbittlich gezogen, einen glatten Schädel, Augenhöhlen, Nasenbein, Kiefer, glitten über Schulterblätter, den S-Schwung der Wirbelkette hinunter, seine Hand wurde um Schlüsselbeine gelegt, um Rippenbögen, um Beckenschaufeln, bekam Kochen zu fühlen, glatte Gelenke bis hinunter zum Mosaik der Fußknöchelchen und Zehenglieder...
Noch immer hielt der Mann die Augen geschlossen. „Hast du uns erkannt?“ Der Mann nickte langsam, drückte einen ehrfürchtigen Kuß auf die weiche und die knochige Hand, die kurz auf seinem Kopf ruhten, sich dann entzogen. „Wir sind Leben und Tod. Du hast uns nun begriffen“, klangen die beiden Stimmen zusammen. Du hast unsere Leiber wirklich begriffen, unsere Haut aus der Fülle des Lebendigen gefühlt.“ Der Mann schauerte zusammen. Dann traten beide hinter ihn neben den Stamm des Apfelbaumes und legten ihm die Hände auf die Schultern. „Jetzt verschließ nicht länger Deine Augen!“

- Der Mann folgte der gebieterischen Aufforderung ohne Zögern, ein kalter Luftzug, etwas Dunkles in der hellen Wärme des Gartens. Der Tod hatte seinen schwarzen Mantel geschwenkt und vor dem Mann tauchten sie auf: Hunger und Durst, Krieg und Krankheit. „Diese sind unsere Schmerzenskinder“ hörte der Mann Leben und Tod hinter sich sagen. „Furchtbar sind sie diese unsere Kinder. Du hast geschildert, was es heißt ihnen zu begegnen. Um den Menschen zu helfen, haben wir noch sieben Töchter und Söhne gezeugt, du kennst sie gut aus eigener Erfahrung, in vielerlei Gestalt sind sie dir begegnet auf deiner bisherigen Lebensreise!“ Der Mann sah sie Hand in Hand auf sich zukommen: Freiheit und Einsicht, Phantasie und Mut, Hoffnung und Lachen und, in der Mitte der Geschwister, die Liebe.

- Tiefes Schweigen senkte sich über den Garten. Lange währte es, dann schwenkte der Tod noch einmal den schwarzen Mantel, während das Leben den Mann mit starken Armen umfing und die Hände über seinem Herzen verschränkte. Der Duft ihrer Haut und des Gartens mischten sich, der Mann sog ihn tief ein...

Heimweh und Sehnucht

Und hier wie versprochen die erste Erzählung...

- Könnte Sehnsucht das Heimweh nach dem Paradies des Unbegreiflichen sein? Mag es sein, wie es will....

- So einsam „Svenserum“ auch liegt, finden doch erstaunlich viele den Weg hierher. Bald nach dem bewegenden, wortlosen Sommerbesuch der alten Frau saß der Herr des roten kleinen Hauses spätabends noch auf der Bank. Da kam den Waldweg herauf ein Mensch in blauer Jacke und blauer Hose, im Arm ein schlafendes Kind. Er stutzte, blieb stehen.

- Zögernd folgte er dem einladenden Winken, kam näher, ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, setzte sich schließlich, musterte den Hausherrn aus dem Augenwinkel, gab sich einen Ruck, legte ihm das Kind in den Arm, stand auf, zog die Jacke aus, bettete es hinein und deckte es – vorsichtig, um es nicht zu wecken – mit dem Halstuch zu.

- Dann ließ sich der Mensch daneben mit einem unterdrückten Stöhnen wieder auf die Bank sinken, band die Stiefel auf und zog sie von den geschwollenen Füßen. Kein Wort fiel. Unruhe ging von dem Menschen aus, fahrig strichen die Hände über die Knie, die Finger rieben eine Stoffalte. Stoßweise ging der Atem. Etwas wie spitze Nadeln hing in der Luft. Die Stille lastete. Nur der Schlafatem des Kindes kam und ging, leicht, hauchleicht.

- Immer wieder schauten die beiden auf der Bank zu dem vertrauensvoll schlummernden Geschöpf und harrten die ganze Nacht aus. Als es zu dämmern begann, stand der Mensch wieder auf, eckig und fahrig zugleich, schien etwas sagen zu wollen, drehte sich dann aber rasch um, ging barfuß zum Waldweg, löste sich auf in einem Morgennebelstreif. Die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Baumkronen... Rucksack, Stiefel – das Kind, alles verschwunden.

- Der ruhelose, stumme Mensch in der blauen Jacke und der blauen Hose mit dem schlafenden Kind im Arm kam noch oft zur Lichtung. Wie oft? Da war keiner, der es hätte zählen können. Der Mensch ging jedes Mal barfuß ein paar tastende Schritte im Gras, trat unter die Bäume zurück, beschattete die Augen und ließ den Blick rundum schweifen. Jede Kleinigkeit nahm er wahr, das Licht, die Spuren der Jahreszeit, Tierlaute, Knacken im Unterholz, Blätterrascheln, das Fallen eines Zapfens, das gebremste Drehen des Windrades. Er sah einzelne, stehengebliebene Gräser sich neigen, er hörte die Zeit verrinnen und die Lichtung atmen. Jede Veränderung von menschlicher Hand bemerkte er, die Wände waren durchsichtig für ihn. Er sah den neuen Bretterboden im Stall und im Haus den Korb mit Holz, bereit zum Feueranzünden. Der Anflug eines wehmütigen Lächelns huschte übers Gesicht, als der Mensch das Windspiel vom Stallgiebel und einen vergessenen Apfel ins Gras fallen hörte. Hier war jemand daheim, er war es nirgends. Nie mehr traf er jemand an. Oder kam er nur, wenn das Haus stumm wartete wie er? Kurz rastete er jedes Mal auf der Bank, war dann plötzlich verschwunden.

- Eines Tages kam er wieder, an jenem pflaumenblauen Tag auf der Schneide, wo zum ersten Mal alles schattenlos durchsichtig offenliegt wie nur in der Zeit, wo das Herz des Sommers schon die ersten Schläge im Herbsttakt klopft und es nach Reifen und Fortziehen zu riechen beginnt. Doch diesmal trug der Mensch das schlafende Kind in einem umgebundenen Tuch und führte an den Händen ein Mädchen und einen Buben.

- Aus dunklen Fenstern schaute ihnen das kleine rote Haus entgegen. Das kleine Mädchen deutete mit dem Finger auf die große Wiese hinter dem Haus, die lag ganz im Hellen ... da arbeitete einer. Er setzte vier Stützpfosten für eine neu gepflanzte Linde. Deutlich war jeder Handgriff zu beobachten, selbst hier vom fernen Rand der Wiese, so klar war die Luft. Die Kleine schaute fragend hoch. Doch der Mensch hatte die Kinderhände frei gegeben und war fort. Neben ihr stand nur mehr ihr Bruder und runzelte nachdenklich die Stirn, eine steile Falte zwischen den zusammengezogenen Brauen. Dann drehte er sich entschlossen zu seiner Schwester und warf ihr den Ball zu, den er unter den Arm geklemmt trug. Hin und her flog der Ball und schließlich schlugen ihn vier kleine Fäuste so genau und wuchtig in Richtung des Mannes unter der Linde, daß der Ball hoch in die Luft flog, größer und größer wurde, zuletzt vom Aufprall aufplatzte und...

19. Oktober 2009

Wanderer zwischen Welten

Wenn alles läuft wie gedacht, dann bin ich nächste Woche irgendwann wieder an Land und wie immer, so führen mich meine Schritte in den Wald.

- Die Wochen an Bord sind intensiv und fordernd und die ersten Tage heißt es dann einfach „landen“. Das geht meinen Kollegen genau so, und wer die Möglichkeit hat, der schaltet für ein paar Tage einfach ab.
Und ich habe diese Möglichkeit hier auf „Svenserum“. Ich sage nur: „Ich bin angekommen“ und dann ist das Telefon aus und ich nicht mehr gefragt.

- Wer meiner Schreiberei gefolgt ist weiß, ich bin ganz einfach für ein paar Tage im wahrsten Sinne des Wortes ver-antwortungslos.

- Mit im Seesack habe ich eine neue Geschichte die ich geschenkt bekommen habe und die aus der gleichen Feder stammt wie die Geschichte vom „Weg“, vom „Wasserzauber“ und über „Sonderbares“.

- Ich habe das Zugeständnis bekommen sie mit zu teilen bevor ich sie einpacke, und deshalb hier schon ein kleiner Einblick...


„Ich habe Heimweh nach einem Land
in dem ich niemals war,
wo alle Bäume und Blumen
mich kennen,
in das ich niemals geh,
doch wo sich die Wolken
meiner
genau erinnern...“

(Hilde Domin)


- Weggefahren im Spätsommer, ankommen werde ich im Spätherbst, dazwischen liegen sechs Wochen mit viel Arbeit in einer anderen Welt die allerdings auch ihre klare Schönheit zeigen kann.

- Ja, auf eine Art bin ich schon zu einem Wanderer zwischen Welten geworden.


15. Oktober 2009

Eltern haften an ihren Kindern

Ja, es ist alles miteinander verhaftet. Nicht nur Eltern mit ihren Kindern.

- Manche Fäden sind sichtbar, andere fast durchsichtig wie ein Spinnengewebe und wiederum andere sind für uns unsichtbar.

- Da wir Menschen ja Zusammenhänge sehen und verstehen wollen so haben wir Apparate erfunden, die selbst das für uns nicht Wahrnehmbare sicht- oder hörbar machen. Ich habe an anderer Stelle schon einmal darüber geschrieben, dieses wahrnehmen Können und Wollen und den Kompass erwähnt, der ja den unsichtbaren Magnetismus aufzeigt.

- Und Keppler hat uns gezeigt, dass selbst die Sonne und Planeten von unsichtbaren Kräften zusammengehalten werden. Ich denke letztendlich kann es nicht anders sein für die Galaxien im Raum. Jede für sich und alle miteinander.

- Wenn man den heutigen Astronomen zuhört, dann dehnt sich das System noch immer aus, der Mond entfernt sich von der Erde, oder anders gesagt, die Kräfte, noch besser, die Zusammenhänge sind nicht statisch, sondern dynamisch.
Nur der „Zusammenhang“ als solcher bleibt bestehen.

- Was haftet an wem?

Das Blatt am Tautropfen, oder der Tautropfen am Blatt?

- Spielt die Antwort denn wirklich eine Rolle?


14. Oktober 2009

Der Nase nach

Geruch und Erinnerung sind unweigerlich miteinander verknüpft.

- Die Nase spielt eine größer Rolle in unserem Leben, als uns meist bewusst ist. Das reicht von: „Ich kann Dich nicht riechen“ bis hin zu naseweis sein. Man kann sie in alles Mögliche stecken, und manches kann einem an der Nase vorbeigehen. Wir können sie dem anderen lang machen, oder selbst eine bekommen. Pinocchios Nase wurde für jede Lüge länger und einen Stüber können wir auch drauf verpasst kriegen.

- Wir können wirklich und sinngemäß drauf fallen und wir können ihr folgen. Laufen kann sie sowieso von alleine, triefen wie Nebel von Zweigen auch.

- Wir brauchen sie zum Schmecken und letztendlich auch zum Riechen.

- Und einen Geruch den ich für mich immer mit Svenserum verbinden werde, ist der Geruch von Rauch. Aber nicht irgendeiner, sondern der von Tannenholz.

- Das Haus riecht immer ein wenig nach Rauch, selbst wenn es wochenlang leer stand und den Sommer über nicht geheizt wurde Obwohl alles geputzt und gewaschen ist, so bleibt ein leichter Hauch in den Wänden sitzen und empfängt mich immer wenn ich nach den Wochen zur See die Tür aufmache. Es riecht ganz einfach nach "Svenserum".

- Am Anfang war der Geruch von einem Tannenfeuer recht ungewohnt für mich, denn meist wird ja Birke verbrannt. Und da ich ganz zu Anfangs wirklich Probleme mit dem Küchenherd hatte, so hat er mir öfter mal das Haus mit Rauch gefüllt.

Aber nicht nur im Haus, auch draußen kann es manchmal sehr nach Rauch riechen.

- Die hohen Bäume lassen je nach Wetterlage den Wind nach unten wirbeln, drückt den Rauch zum Boden, lässt ihn über die Lichtung schweben ehe er sich zwischen den Bäumen auflöst.


- So wird für den Rest meines Lebens der Geruch eines Tannenholzfeuers sobald er mir in die Nase steigt mich an "Svenserum" erinnern.

10. Oktober 2009

Heavy metal

Denn genau das ist das Zeitalter in dem wir leben. Wem es anderes vorkommt, ist meiner Meinung nach verblendet von der Technik die ihn umgibt.
- Da stehe ich in Stockholm am Bahnhof auf dem Weg in den Wald nach einem langen Törn, die Müdigkeit schwer in den Knochen, und wie immer, erscheint die Welt eigenartig, ungewohnt, denn nach sechs Wochen Aufenthalt in dem doch recht begrenzten Dasein auf dem Schiff, so nehme ich die Welt, die für so viele den Alltag ausmacht, mit neuen oder anderen Augen wahr.
- Und die sehen einen Rohbau mit 15 Stockwerken auf der anderen Straßenseite, oder besser nur das Gerüst. Eine Stahlkonstruktion, ohne Wände, ohne Decken, eine wuchtige Schwere ausstrahlend.
- Blechautos auf der Strasse, Blechdächer auf den Häusern, Kofferwagen aus Metall, Geländer, Zäune, Fahrräder, Fensterrahmen, Dosen, Regale... egal wohin ich meine Augen wende, überall stoßen sie auf Metallenes.
- Und der Mensch ist stolz auf seine Bautechnik, hat Pläne von Wolkenkratzern die einen Kilometer in die Luft ragen und damit zu „Wolkendurchstossern“ werden.
- Dann noch ein gewaltiger Szenenwechsel, von der Grosstadt in den Wald, denn fünf Stunden später stehe ich auf der Wiese hinter dem Torp und mein Blick fällt auf ein Zittergras.
- Zerbrechlich und schlank, zierlich und federleicht. Und hoch oben auf dem feinen Stängel trägt es die im Verhältnis schweren Samenkapseln. Eine kurze Windböe wirbelt über die Wiese und geschmeidig, anschmiegsam neigt sich der Halm und schwingt dann elastisch zurück, ohne Anstrengung, kommt zitternd zum Stillstehen.
- Wenn wir eine solche Konstruktion nachbauen könnten, ja dann hätten wir vielleicht das Recht, Stolz sein zu können.

- Aber noch wird unsere "Baukunst" von einem für viele unscheinbarem Gras mit und in aller Leichtigkeit übertroffen.

8. Oktober 2009

Ausgeträumt

Es war weit oben im Norden, das Land heißt Laponia, wo ich auf diese Hausruine traf.

- Zurück aus dem weiten Land der Rentiere wo der Blick sich in der Ferne ausruhen durfte und die Seele in Ordnung kam nach 120 km Fußwanderung. Es waren nur noch sieben Kilometer bis zur ersten, kleinen Ortschaft und der Wald lichtet sich, machte einer Wiese Platz.

- Und da stand das Holzhaus, ein ehemals lebendiger Traum, jetzt schon längst vergessen und ausgeträumt, nur noch Erinnerung und selbst die verbleicht langsam, fällt in sich zusammen. Hier lebte mal eine Familie, Neusiedler die das Land geschenkt und steuerfrei zu Anfangs hier ihr Auskommen suchten um auch Nordschweden zu besiedeln.

Schwer war es hier Fuß zu fassen, denn die Wiesen waren karg, das Futter für die Tiere war immer eine Sorge. Fisch gab es im Überfluss, Kartoffeln wuchsen gut im Land wo die Sonne nicht untergeht im Sommer.

Aber es war hartes Brot, Wasser, obwohl reichlich vorhanden musste weit getragen werden, oft über hundert Liter am Tag im Winter für die Kühe. Ich kenne nur 20 Liter am Tag zu tragen auf „meiner“ Wiese, und schon das kann lange Arme geben.

- Als dann der erste Weg in dieser Gegend gebaut wurde um das Land besser zu erschließen, so weiß ich aus einer Erzählung „Frauen in weglosem Land“ dass die Kinder die sieben Kilometer auf Pfaden gelaufen sind, nur um einen Weg zu sehen! Und haben sich versteckt, sollte tatsächlich jemand dort unterwegs gewesen sein.

- Aber alle harte Arbeit reichte nicht aus, der Traum vom selbstständigen Leben war irgendwann um 1950 ausgeträumt und ohne Unterhalt, so zerfielen das Haus und die Nebengebäude schnell denn die Winter sind erbarmungslos hier oben.

- Sollte niemand meinen Traum vom einfachen Dasein auf der Lichtung aufgreifen, dann sieht auch für das Torp die Zukunft so aus.

- Es war schon einmal nahe daran zu zerfallen, bevor der vorherige Besitzer diese Stelle renovierte und ich seinen Traum jetzt auf meine Art selbst weiter träume und am Leben halte.


1. Oktober 2009

Wer bist Du?

Sag, Waldfreund, kam ich Dir nicht vielleicht bekannt vor als ich mich zu dir an Dein Feuer setzte?

- Du hattest recht mit Deinem Gefühl, ich bin Dir bekannt, nur hast du mich vorher noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Das ist auch ein Grund, warum ich Dich eben vorsichtig abgeschätzt habe, denn nicht jeder ist bereit sich zu öffenen für das was ich dir erzählen will.

- Aber da Du fragst und es wissen willst und keine Angst selbst vor dem Nichts und dem was dahinter kommt hast...“ und hier lächelte die Frau den Mann an. „Ja, ich weiß wo Du warst! Du ahnst meine Antwort wohl schon!¨

- Ich bin Deine Weisheit und Torheit, Dein Wissen und Deine Dummheit, Deine Gefühle, Ahnungen und Intuition. Ich bin Deine Phantasie und Dein Geist, Dein Mut und Deine Angst, Deine Freuden und Sorgen. Ich bin Deine Träume, Möglichkeiten und Dein Wille und bin nur durch Dich. Und ich bin die Frau in Dir, denn jeder Mensch trägt auch seinen Gegenpol in sich und nur das Mehr oder Weniger entscheidet, wohin sich die Wagschale letzendlich neigt. Wir könnten die Plätze tauschen, und doch würde sich am Menschsein nichts ändern, nur an den Erfahrungen.

- Ich bin Dein Sein, Dein Gewesenes und Dein Werdendes. Ich bin Dein gesammeltes Bewusstsein und Unbwusstsein, ja selbst Dein Unterbewusstsein und habe auch aus ihm zu Dir gesprochen heute. Danke dass Du mich so freimütig hast zu Worte kommen lassen. Nicht jeder hat den Mut oder die Stärke dazu sollst Du wissen. Oder den Willen.
- Ja, Du Wanderer durch die Zeit, zwischen, ja selbst bis hinter die Welten, alles was Du diese Nacht erlebt hast war, selbst wenn Du nur sieben ganze Worte hervorgebracht hast, ein Zwiegespräch mit Dir selbst, denn wir sind eins. Ich bin Dein Herz und Deine Seele. ¨
Du warst der Erschaffer Deiner eigenen Welt in den vergangenen Stunden, so wie jeder Mensch sich seine eigene Welt letztendlich formt nach den Möglichkeiten und Erfahrungen die ihm gegeben sind und denen er teilhaftig geworden ist.
Ich bin Du!"

- Als sie geendet hatte bedurfte es keiner Worte mehr zwischen ihnen. Alles war gesagt...aber noch nicht getan. 
Wie selbstverständlich öffnete daher der Mann seinen Lodenmantel und genau so selbstverständlich nahm die Frau bei ihm Platz. Er schlug den weiten Mantel um sie, spürte die Wärme die von ihr ausging und...
...schlief ein.

- Seine letzte Einsicht nach dieser wahrlich eigenartigen Reise durch die Zeit der Nacht war tief mit seinem Gefühl verbunden: "Nach einer langen Wanderung bin ich schliesslich bei mir selbst angelangt."


- Und noch während das Feuer seine letzte Wärme verströmte und leise, mit sprödem Knacken zu einem Haufen Glut zusammensank, so dämmerte im Osten ein neuer Morgen heran.

***

Der Gesang der Elfe

Klar und rein wie aus einem längst vergessenen Traum erklang die Stimme der Elfe durch den nächtlichen Wald.

- Und es war ihm, er der eben noch ein Zeitreisender war, als käme selbst der Wald wieder zur Ruhe nach dem Ruf des Grauen, als würde die Stimme Balsam auf die Seelen aller Lebewesen streichen die ihren Gesang hörten.
Er wusste, dass Eiche und Elch, Adler, Libelle und Wolf ihr zuhörten, ihre Sorgen vergaßen und genau so wie er auf wundersame Weise einfach eine tiefe Freude über das bloße Dasein erlebten.

- Ein Blick auf die Frau gegenüber reichte um zu sehen, auch sie war von dem Zauber der von der Stimme und der Melodie ausging gefangen und mit halbgeschlossenen Augen lauschtend entrückt von der Welt, über die sie so viel Sorgenschweres eben noch zugetragen bekommen hatten.
Dabei spielte es keine Rolle, dass die Elfe in einer Sprache sang, deren Worte zumindest für ihn unbekannt waren, er verstand dennoch.

- Die Sommerblumenwiesen seiner Kindheit tauchten auf, voller Reichtum und entdeckerlustig lief er barfuss durch das hohe Gras in einer sorglosen Welt die jung war, die Gipfel der Berge wolkenlos unter tiefblauem Himmel.

- Dann verblasste das Bild und getragen durch den Gesang der Elfe, so verschwand auch das Gestern, das Morgen und nur das Jetzt wurde gegenwärtig.
Und zum zweiten Mal in dieser Nacht öffnete er den Mund und hörte sich sagen: “Ich lebe.“

- Der Gesang wurde eindringlicher und selbst das Jetzt fing an sich aufzulösen und es war ihm, als wuchsen seinem Geist Flügel.
Höher und höher stieg er, sah sich am Feuer sitzen, sah den dunkeln Wald sich ausbreiten, das Land auf dem er wuchs, sah Kontinente sich ausbreiten, sah die Erde rund werden.
Er sah ihre Bahn um die Sonne, schoss geradewegs heraus aus der Milchstrasse, sah andere Galaxien wie Feuerspiralen im Raum schweben, sah sogar sie zu Sternen im Raum werden.
Und mit einem letzten Flügelschlagen so gelang es ihm einen Blick selbst hinter Zeit und Raum zu erhaschen und fand sich wieder...

...am Feuer im Wald.

- Der Gesang war zu Ende und die Sängerin? War sie vielleicht zum Licht geworden das zwischen den Bäumen schwebte?
Erst als er sich die Augen rieb bemerkte er, die Wolkendecke war aufgebrochen und der Mond richtete Strahlenbündel auf die kleine Lichtung, alles in ein unwirkliches Silberlicht tauchend wo nur zwei, in lange Mäntel gehüllte, Menschen noch am Feuer saßen.


- Irgendwann, er musste sich räuspern damit seine Stimme trug, richtete der nun wirklich und wahrhaftig Weitgereiste seinen Blick auf die Frau und fragte schlicht:
„Wer bist Du?“.
- Sie schaute ihn lange und vorsichtig abschätzend an, erhob dann ihre Stimme und antwortete...

***