22. Oktober 2009

Die dritte Erzählung


... und stand unter einem klaren Sternenhimmel neben seiner frisch gepflanzten jungen Linde. Er stand und schaute, glitt ins Gras, legte den Kopf in den Nacken, fühlte den Stamm am Hinterkopf und wartete. Worauf? Er wußte es nicht. Er schaute in den Himmel und irgendwann wartete er nicht mehr. Er schaute zum Himmel und irgendwann spürte er Taufeuchte auf den Lippen. Er dachte an das Wasser des Lebens.

- Er schaute nur mehr und in der Morgendämmerung sah er ihn wieder um die Wegbiegung kommen, den Mensch in der blauen Jacke und der blauen Hose. Nicht mehr eckig und fahrig waren seine Bewegungen, sondern ruhig und zielstrebig, Sie setzten sich auf die Bank, langsam wurde es heller auf der Lichtung, ein neuer Tag. Der Gast bat um ein Glas Quellwasser, trank bedächtig, Schluck für Schluck und begann zu erzählen:

- „Immer wieder hat es mich an diesen guten Ort gezogen. Oft ist mir jemand auf dem Weg hier herauf begegnet. Sie haben mir anvertraut, daß sie sich nicht auf die Lichtung verirrt hatten. Der Weg endet hier, doch es war keine Sackgasse, sondern ein stiller Hafen mitten im Wald. Sie haben gefunden, was sie nicht suchten und würden gern wiederkommen, hier eine Zeitlang Obdach finden.

- Der Nimmersatt und der Freßsack sind mir begegnet und erzählten mir von ihrem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe, von der Traurigkeit, daß Kuchen nicht satt macht, von der Sehnsucht wieder leicht zu werden und frei atmen zu können.

- Ein andermal kam mir die Konsumgierige mit dem gehetzten Blick entgegen, ständig zupften die Finger am Designerkleid herum und schließlich begann sie zu weinen, weil all die Dinge, die sie kauft, die Leere ringsum und vor allem das Loch innen nicht stopfen können. Wie glücklich sein müsse, wer eine so weite Wiese wie hinter dem roten kleinen Haus aushalten könne.

- Den Mehr-scheinen-als-sein hab ich getroffen, die Reifen an seinem Luxusschlitten waren alle platt. Er hockte daneben auf dem Wegmäuerchen und gab schließlich zu, wie gerne er selbst ein Rad wechseln können möchte, etwas mit den Händen schaffen, nicht immer das Rad schlagen müssen vor Leuten die einen vergessen oder einen einen aufgeblasenen Kerl schimpfen und neidisch herziehen, sobald man zur Tür hinaus ist.

- Dann einmal sah ich einen Mann, der stand unter einer Birke, hatte die Ärmel hochgerollt, befühlte seine Muskeln und als ich daherkam wurde er rot vor Scham. ‚Was nützt meine Kraftprotzerei, wenn ich schwach werde sobald es um die wirklich wesentlichen Dinge geht‘, hörte ich ihn murmeln, ‚und wenn ich mich vor etwas wie dem Holzspalten drücke, weil ich Angst habe, daneben zu hauen und schneller zu ermüden als der andere.

- Beim nächsten Mal kam mir eine Frau entgegen. Jedes Knacken im Dickicht ließ sie verschreckt herumfahren, sie ertrug die Stille nicht, redete ununterbrochen von ihrem Universitätsinstitut, von Kongressen zum Umweltschutz, von biologischen Experimenten, von lukrativen Strategien, die der Mensch nach Prinzipien der Natur optimieren sollte, daß man zum Beispiel die Selbstreinigungskraft der Lotosblüte für die Produktion beschichteter, schmutzabweisender Jalousien nutzten könnte. Als ich sie fragte, ob ihr hellrote Lotosblüten lieber sind oder dunkelrote, gestand sie mir, sie habe sie noch nie in freier Natur blühen sehen, denn sie fühle sich verloren in der Wildnis und habe solche Angst. Nur in ihrem Labor fühle sie sich sicher. ... nur wie lange, Stellen würden abgebaut.

- Ja, und dann der Herr in dem sündhaft teuren Anzug, den er sich durch einen Grasfleck verdorben hatte. Er lächelte verlegen und sagte, wieviel er darum geben würde noch einmal unbeschwert wie als Bub auf einen Baum klettern zu können, aber abgesehen von den lädierten Bandscheiben, er habe ja keine freie Minute und die Börse sei in Zeiten der Krise ein noch brutaleres Haifischbecken als sonst.“

- „Mh“ brummte der Hausherr, als der Mensch in der blauen Jacke schwieg, „ich war nur froh, diese unangenehmen Zeitgenossen rasch von hinten statt von vorn zu sehen. Und du meinst, sie haben hier etwas gesucht?“ „Vielleicht nicht gesucht, aber gefunden und das Verlangen nach dem einfachen Leben von hier mitgenommen“ entgegnete der Gast zögernd. „So hat es mir zumindest Frau Weisheit erklärt, von der ich dich herzlich grüßen soll und die dir ihren Segen schickt für – wie hat sie es gleich ausgedrückt? – ja, Segen, daß dein irdisches Paradies gedeiht, an dem du hier pflanzst und schaffst.“ „Oh, du hast Frau Weisheit getroffen? Sag ihr, sie ist jederzeit herzlich willkommen auf Svenserum, auch wenn ich gerade zur See bin. Ihr ist ja kein Schlüsselversteck verborgen. Noch schöner wäre es freilich, wenn wir uns wieder treffen könnten. Vielleicht im November schon? Wenn die Nebel ziehen wie die Gedanken. Auf der Bank mit dem Blick zur Espe mit der abgestorbenen Krone ist es dann schon zu kalt, aber am Feuer läßt es sich ja fast noch besser schweigen. Und du? Heute ganz ohne Gepäck, aber mit so viel Ruhe? Und das schlafende Kind?"

- „Du sorgst dich darum? Das Kind ist das Heimweh nach dem Paradies des Unbegreiflichen, ihr Menschen nennt es das Märchen. Ich gab es wieder einmal eine Zeit lang in der Obhut von Leben und Tod, nachdem ich mich selbst bei ihnen ausgeruht habe. Märchen schläft die Müdigkeit und Enttäuschungen der langen Wege durch die Welt weg, trinkt sich wieder am Wasser des Lebens satt und Leben und Tod lehren es Altes neu zu singen, erzählen und tanzen, wie sie mich, die Sehnsucht, immer neu sprechen und zuhören lehren. Willst du mitkommen, wenn Märchen und ich wieder in die Welt ziehen? Als erstes werden wir Frau Weisheit besuchen. Ein Musikant fehlt uns noch, dann sind aller guten Dinge drei. Und du denkst ja wie wir; die Gaben von Frau Weisheit kann man nicht kaufen und nicht verkaufen, wenn sie auch nicht umsonst zu haben ist, sondern oft ein ganzes Leben kosten. Schlägst du ein, kommst du mit – gastfreier Freund?“

- Die Sehnsucht hielt dem Hausherrn die Hand hin, legte ihm ihre blaue Jacke um die Schultern und...


...hier endet die Erzählung. Oder auch nicht, denn die Brücke zwischen den Welten ist geschlagen.
Ob sie trägt?
Das bleibt für jeden selbst herausfinden.

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