21. Oktober 2009

Die zweite Erzählung


...im Schein der letzten Sonnenstrahlen, die durch die Schneise vom Tal her auf die Lichtung fielen, sah der Mann einen bunten Ball über seiner Linde bersten und daraus einen Garten hochschweben. Unter dem durchsonnten Torbogen standen zwei Gestalten, die ihm winkten heraufzusteigen. Stufe um Stufe formte sich unter seinem tastenden Fuß eine durchsichtige Treppe, versank hinter ihm wieder. Eine ungekannte stille Freude machte ihn so leicht, daß er zuletzt schwebte, nicht mehr stieg, zog ihn doch etwas in und vor ihm zugleich unwiderstehlich nach oben.

- Die beiden Gestalten streckten ihm die Arme entgegen, zogen ihn durch das Tor und es schloß sich hinter ihm. Sie nahmen ihn in die Mitte und wanderten mit ihm durch Wiesen, Felder, auf verschlungenen Wegen durch lichte Gehölze und Hecken, dann wieder zwischen Beeten hindurch, die überquollen von Fülle. Fülle an Farben, Früchten, Düften. Nie gehörter Wohllaut drang in seine Ohren. Und die Luft! Es war, als atme er die Perlen von Champagner und poche mit jedem Atemzug sein Herz noch leichter und noch freudvoller. „Ich will ewig so weiterwandern hier“, dachte er. Die beiden geleiteten ihn aber in immer engeren Spiralen schließlich in die Mitte des Gartens zu einer Bank unter einem großen Apfelbaum. Der schäumte von rosigweißen Blüten, war durchsummt von Bienen, Hummeln und Wespen, durchzwitschert von Vögeln mit niegesehen buntem Gefieder, bog zugleich die Äste schwer von gelben, goldbraunen und roten Äpfeln bis zum Boden und dazwischen knospte es schon neu. Zu Füßen des Baumes quoll das Wasser des Lebens in ein Bergkristallbecken, frisch sprühten Tropfen auf des Mannes Gesicht und die Füße versanken in Moos und Gras. Vor unbändiger Lebenslust meinte er schier zu zerspringen. Er schloß die Augen, um sich zu fassen. Als er sie wieder öffnete, sah er in zwei Augenpaare – groß und erwartungsvoll. Zwei Gesichter ganz nahe vor seinem. Der Blick das Mannes wanderte scheu und zugleich voll Verlangen zu erkennen darüberhin, glitt weiter über die beiden Gestalten. Doch bald legte er die Hände schützend vor die Augen. Solche Majestät – wie sollte er das ertragen?

- Da hörte er zwei Stimmen, beide tief und voll, die einer Frau und die eines Mannes. „Schau uns an, schau, damit du erlebst und davon Zeugnis gibst.“ Der Mann schüttelte den Kopf: „Ich kann nicht begreifen.“
„Oh doch“ erhielt er zur Antwort „vertrau! Kannst du nicht schauen, so fühle.“
Eine weiche, schmale Hand ergriff seine Linke, eine knochige, große Hand seine Rechte. So geführt glitten seine Hände gleichzeitig langsam über die beiden Gestalten.
Rechts fühlte der Mann langsam den Körper entlang streifend warme Menschenhaut, Federn, rissige Rinde, Glätte von Halmen und Fangzähnen, Stacheln, Krallenschärfe, Schleim, Schuppen, Fell, Borsten, glatte Hauerspitzen, Hornpanzer, Wasserkühle, Gischt, Sand, Dornen, Pilzsamt, federnde Moospolster, Wellengekräusel, Ölschlieren, Tropfen, Eisnadeln, Glut ... Da im Nacken eine Flaumfeder, dort an der Schulter ein Stückchen Rehfell, in der Armbeuge Schlangenhaut, an der Hüfte glatte Buchenrinde .. Kaum hatte die Handfläche etwas ertastet, schon entglitt es, fühlte sie neues. Millimeter um Millimeter wandelte sich die Haut dieses Körpers unter dem sanft geführten Handteller.

- Links tasteten die Fingerspitzen des Mannes, unerbittlich gezogen, einen glatten Schädel, Augenhöhlen, Nasenbein, Kiefer, glitten über Schulterblätter, den S-Schwung der Wirbelkette hinunter, seine Hand wurde um Schlüsselbeine gelegt, um Rippenbögen, um Beckenschaufeln, bekam Kochen zu fühlen, glatte Gelenke bis hinunter zum Mosaik der Fußknöchelchen und Zehenglieder...
Noch immer hielt der Mann die Augen geschlossen. „Hast du uns erkannt?“ Der Mann nickte langsam, drückte einen ehrfürchtigen Kuß auf die weiche und die knochige Hand, die kurz auf seinem Kopf ruhten, sich dann entzogen. „Wir sind Leben und Tod. Du hast uns nun begriffen“, klangen die beiden Stimmen zusammen. Du hast unsere Leiber wirklich begriffen, unsere Haut aus der Fülle des Lebendigen gefühlt.“ Der Mann schauerte zusammen. Dann traten beide hinter ihn neben den Stamm des Apfelbaumes und legten ihm die Hände auf die Schultern. „Jetzt verschließ nicht länger Deine Augen!“

- Der Mann folgte der gebieterischen Aufforderung ohne Zögern, ein kalter Luftzug, etwas Dunkles in der hellen Wärme des Gartens. Der Tod hatte seinen schwarzen Mantel geschwenkt und vor dem Mann tauchten sie auf: Hunger und Durst, Krieg und Krankheit. „Diese sind unsere Schmerzenskinder“ hörte der Mann Leben und Tod hinter sich sagen. „Furchtbar sind sie diese unsere Kinder. Du hast geschildert, was es heißt ihnen zu begegnen. Um den Menschen zu helfen, haben wir noch sieben Töchter und Söhne gezeugt, du kennst sie gut aus eigener Erfahrung, in vielerlei Gestalt sind sie dir begegnet auf deiner bisherigen Lebensreise!“ Der Mann sah sie Hand in Hand auf sich zukommen: Freiheit und Einsicht, Phantasie und Mut, Hoffnung und Lachen und, in der Mitte der Geschwister, die Liebe.

- Tiefes Schweigen senkte sich über den Garten. Lange währte es, dann schwenkte der Tod noch einmal den schwarzen Mantel, während das Leben den Mann mit starken Armen umfing und die Hände über seinem Herzen verschränkte. Der Duft ihrer Haut und des Gartens mischten sich, der Mann sog ihn tief ein...

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Zu diesem Klimt-Bild:

"Fortsetzung

Die wir uns
fortsetzen
durch Liebe

Wir geben uns hin
dem Tod
und nehmen uns
das Leben

vom Baum
der
Erkenntnis"
(Rose Ausländer)